8. Oktober 2025 |

Reflexionen zum Abriss in der Kreutzergasse

“Zeitgemäß zeitlos” 

Die Spuren einer leeren Gesellschaft

Claudiu Silvestru

Ein zeitgemäßer und zugleich zeitloser Neubau“ – selten findet man eine Beschreibung, die so oft bemüht und so wenig hinterfragt wird. Sie klingt nach Balance, nach Maß, nach einer stillen Tugend inmitten architektonischer Extreme. Wer würde sich nicht wünschen, etwas zu schaffen, das im Heute verankert ist und zugleich für morgen gilt? Doch hinter dieser Formel lauert ein Paradox: Kann Architektur wirklich zugleich Ausdruck ihrer Zeit und frei von ihr sein? Und was sagt das über die Gesellschaft und die Baukultur aus, die solche Architektur hervorbringt?

Zunächst ist das Ideal durchaus sympathisch. Zeitlosigkeit verspricht Dauer – gegen die Flüchtigkeit der Trends, gegen den rasanten Wechsel der Oberflächenästhetiken, gegen den Verschleiß der Moden. In ihr schwingt ein leiser Protest gegen die Überhitzung des Zeitgeists, gegen den Zwang zur permanenten Neuerfindung. Sie will nicht blenden, sondern bestehen. Und tatsächlich kann sich in dieser Haltung eine große Würde zeigen: die Kunst, aus dem Funktionalen das Selbstverständliche zu formen, aus dem Selbstverständlichen das Bleibende.

Doch Architektur ist immer auch ein Ausdruck ihrer Epoche – in Technik, Kultur und Gesellschaft, aber ebenso in Philosophie und Weltanschauung. Kein Bauwerk entsteht im luftleeren Raum. Das „Zeitgemäße“ ist nicht nur eine Stilfrage, sondern ein Spiegel dessen, was eine Gesellschaft über sich selbst denkt: ihre Hoffnungen, ihre Technologien, ihre Ängste, ihre Unentschlossenheit. Eine gotische Kathedrale wäre ohne den Glauben und das Handwerk des Mittelalters undenkbar, die Glashalle der Moderne ohne den Fortschrittsoptimismus des industriellen Zeitalters. Architektur wird dann langfristig interessant, wenn sie ihre Zeit nicht verleugnet, sondern sichtbar macht – wenn sie Haltung zeigt, nicht nur Form.

Die heutige Sehnsucht nach „Zeitlosigkeit“ lässt sich deshalb auch als Symptom lesen. In einer Ära, die von Beschleunigung und Unsicherheit geprägt ist, wächst das Bedürfnis nach Stabilität – nach Räumen, die Bestand versprechen, während alles andere fließt. Insofern ist die zeitlose Architektur ein Kind des Wandels: ein Gegenbild zur Überforderung durch Wandel. Sind die glatten Fassaden, die gedeckten Töne, die disziplinierten Kubaturen gar nicht Ausdruck von Gleichgültigkeit, sondern von Erschöpfung? Ein Versuch, Ruhe zu bauen, wo die Welt zu laut geworden ist?

Diese Ästhetik der Mäßigung birgt auch Gefahr. Wenn alles „zeitlos“ sein will, verschwindet die Zeit aus der Architektur. Was bleibt, ist eine sanfte Gleichförmigkeit, ein urbanes Rauschen aus gut gemeinten, gut gemachten, aber schwer unterscheidbaren Bauten. Manchmal wirkt die Zeitlosigkeit dann weniger wie eine Tugend als wie eine Strategie der Vermeidung: keine Ecken, keine Kanten, keine Experimente, keine Geschichten. „Modern, aber nicht modisch“ – das kann, in seiner defensiven Variante, auch heißen: ohne Risiko, ohne Meinung, ohne Widerspruch.

Die Aufgabe von Architektur war zu keinem Zeitpunkt ihrer europäischen Geschichte, zeitlos zu bauen, sondern die Zeit bewusst einzubauen – ihre Herausforderungen, ihre Technologien, ihre ethischen Fragen, ihre Visionen. Der gebaute Raum, der überdauert, ist immer auch ein Spiegelbild der Gesellschaft, die ihn hervorgebracht hat. Was wird die Zukunft aus dem „zeitlosen“ Antlitz der Schicht lesen, die unsere Zeit hinterlässt – ehrwürdige Zurückhaltung? Unsicherheit? Ahnungslosigkeit? Sind wir die Gesellschaft, die zu viel Respekt vor dem Vorhandenen hatte – oder die, die keine Geschichten zu erzählen wusste?

Gerade im Umgang mit dem Bestand wird diese Spannung sichtbar. Die Transformation vorhandener Architektur – ob historisch denkmalgeschützt oder aus den nüchternen Jahrzehnten der Nachkriegszeit – verlangt eine Haltung zum Alten. Wer den Bestand verändert, steht in einem Gespräch mit der Geschichte, und jedes Schweigen – auch das vermeintlich „zeitlose“ – ist dabei eine Antwort.  

Wenn Architektur im konstruktiven Dialog verstanden werden darf, erzählt dann „zeitgemäßes und zugleich zeitloses“ Bauen nicht schlicht von der Angst, eine Haltung zu zeigen?

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