Eine Landesregierung ohne Verständnis für seelische Not
Von Teresa Arrieta
Heim im Brennpunkt der Kritik – das Beispiel des wiedereröffneten Heims für Minderjährige Geflüchtete in Greifenstein zeigt, dass die Debatte aufgrund der öffentlichen politische Hetze nur noch von Misstrauen bestimmt wird. Was Jugendliche wirklich brauchen, wird vergessen.
Horden, die bei uns einfallen
Bereits im Klosterneuburger Gemeinderat entflammte massive Polemik rund um die Informationen zum Neubezug des Heims. FPÖ Stadtrat Pitschko vermisste ausreichend Infos zur Neueröffnung nach der sommerlichen Renovierung und bezeichnete die Schutzsuchenden sinngemäß als „Horden, die bei uns einfallen“. Ein Klosterneuburger SPÖ Stadtrat fährt dann mehrmals nach Greifenstein, um sich persönlich davon zu überzeugen, dass die abendliche Anwesenheit der Jugendlichen im Sinne von Disziplin und Ordnung kontrolliert bzw. durch Securities gewährleistet wird und fordert das nun in der NÖN laut ein. Eine Wördener Bürgerliste äußert sich auf Facebook besorgt ob des Personalmangels im Heim und ärgert sich über herumlungernde ausländische Jugendliche in Parks: Jugendliche stellen neuerdings ein Sicherheitsrisiko dar.
Ein Betreuer für 48 Jugendliche?
Wovon sprechen wir? Von einem Heim, das bis zu 48 Jugendliche und junge Erwachsene beherbergt. Sie waren bislang weder kriminell noch auffällig. Minderjährigen steht laut Gesetz eine intensivere Betreuung nach den relativ hohen Standards der Kinderbetreuung zu. Doch gerade diese Betreuung wurde Mitte Jänner von der Volksanwaltschaft vehement kritisiert. Günther Kräuter monierte die Größe des Heims. „Großquartiere bringen eine Gefahr mit sich, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt“, sagte er zur APA, Rückzugsbereiche fehlen. Andere Bundesländer setzten bei Minderjährigen auf kleinere Unterkünfte. Die personelle Besetzung von de facto nur 1 – 2 tatsächlich anwesenden Betreuungspersonen sei „unzureichend“ und vermöge keine adäquate Betreuung von bis zu 48 jungen Geflüchteten zu gewährleisten. Mängel gebe es auch bei der Qualifikation des Personals. Die Empfehlung lautet, pädagogisch geschulteres Personal einzustellen.
ÖJAB weist Vorwürfe zurück
Weiters wurden u.a. Mängel bei der gesundheitlichen und medizinischen Betreuung festgestellt, es gebe keine freizeitpädagogischen Angebote und eine „unzureichende Essenssituation“. In Bereichen wie Sicherheit, Integration, Deeskalation und Gewaltprävention mangle es an professionellen Konzepten. Die ÖJAB hat auf diese Kritik in eine Aussendung reagiert, in der sie die Vorwürfe zurückweist, Details sind hier nachzulesen:
https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20190118_OTS0157/asylwerber-im-oejab-haus-greifenstein-fakten
Gemeinsames Jodeln im Flüchtlingsheim
Wir erinnern uns an das alte Flüchtingsheim der ÖJAB: In den letzten zehn Jahren gab es ein relativ harmonisches Zusammenleben mit der Bevölkerung. Womöglich klagten einige Anrainer über Müll rund ums Heim, andererseits engagierte sich der couragierte Verein „Grenzenlos“ aus St. Andrä Wördern von 2007 bis 2018 erfolgreich für den sozialen und kulturellen Austausch mit den Heimbewohnern – die damals nicht minderjährig waren. Ich selbst war öfters mit dem Verein zu Gast und erinnere mich an fröhliche Singabende, wo gemeinsam abwechselnd gejodelt und gerasselt wurde, wo Afrikanerinnen ihre traditionellen Lieder ebenso präsentierten wie Ägypter und Kritzendorfer.
Vom Kulturfest zur Heimschließung
In unbeschwerter, fröhlicher Atmosphäre wurde in der benachbarten „Alten Schule Greifenstein“ gemeinsam gekocht und gegessen und es gab ein wunderbares mehrtägiges Kulturfestival direkt hinter dem Heim, an dem Menschen von Tulln bis Klosterneuburg teilnahmen. Mit der (bloß teilzeitbeschäftigten) ÖJAB-Heimleiterin Marianne gab es eine gute Zusammenarbeit. Die Bevölkerung war insgesamt positiv gestimmt, es gab keine rechte Regierung, weniger politische Hetze, Flüchtlinge waren noch keine Sündenböcke für eh alles. Statt dessen regierten Hilfsbereitschaft und Wohlwollen der BürgerInnen. Das heruntergekommene Heim wurde dann im letzten Sommer renoviert, die Leiterin abgesetzt – für den neuen FPÖ Landesrat Waldhäusl war ihr Umgang wohl zu menschlich oder laissez-faire.
Schöne Zimmer, einsame Jugendliche
Wer jetzt das Gebäude besucht, sieht kahle Wände, bescheiden aber sauber hergerichtete Zimmer und Sanitäranlagen – die Renovierung war dringend nötig. Einen kleinen Fitnessraum, eine Kantine… ein Mal wöchentlich können die Bewohner selbst kochen. An den Wänden hängen Zettel mit Angeboten von Freiwilligen: Deutschkurse und Sport – für Freizeitgestaltung durch Heimbetreuer mangelt es offensichtlich an Ressourcen. Als ich im Jänner dem Heim einen Überraschungsbesuch abgestattet habe, waren am Wochenende zwei Betreuer – selbst mit Migrationshintergrund – für 35 Jugendliche und 8 junge Erwachsene abgestellt. Diese Betreuer waren freundlich und gaben gerne Auskunft. Die Bewohner seien fast ausschließlich Afghanen, unter der Woche seien die meisten tagsüber außer Haus, entweder beim Nachholen des Hauptschulabschlusses oder beim Deutschkurs.
Akute Personalnot, gesetzlich legitimiert
Es seien unter der Woche meist bis fünf Personen anwesend, heißt es weiter: zwei Heimleiter, die sich um die Verwaltung kümmern, zwei FlüchtlingsbetreuerInnen und ein Zivildiener. Auf Nachfrage geben die anwesenden Betreuer an, sie hätten mehrjährige Erfahrung mit Flüchtlingsbetreuung gesammelt, aber keine akademische sozialpädagogische Ausbildung. Einen Traumatisierten gebe es auch im Heim, der psychiatrische Betreuung benötige. Weitere Recherchen in den nachfolgenden Tagen ergeben, dass offenbar unter der Woche tagsüber mitunter bloß ein einziger Betreuer im Großheim anwesend ist, der zweite begleitet Jugendliche zu Behördenwegen – das hat auch den Klosterneuburger SPÖ Stadtrat erzürnt, der bei seinem Besuch einen einzigen ÖJAB Mitarbeiter vorfand. Den gesetzlichen Anforderungen ist damit trotzdem Genüge getan, nicht jedoch der seelischen Notwendigkeit.
Hohe Anforderungen, aber nur auf dem Papier
Dazu muss man wissen: für UMF-Heime (unbegleitete minderjährige Flüchtlinge) gibt es hohe gesetzliche Auflagen. Diese können aber unterschiedlich streng ausgelegt – besonders in Niederösterreich ist das Gesetz situationselastisch, bei der Beurteilung des Kindeswohls von Flüchtlingen. Vertraglich eingefordert wird ein ambitioniertes sozialpädagogisches Konzept mit einer langen Liste an Anforderungen wie Vernetzung mit Experten, Unterstützung bei finanziellen Problemen, Stärken der psychischen Entwicklung, der Kreativität, Bereitstellung von Krisenintervention und psychologischer Hilfe. Wünschenswert sei selbstständiges Kochen und Einkaufen, Stärken der Sozialkompetenz, Vorantreiben von Integration und Bildung… es liest sich schön und ist bei einem personell knapp geführten Heim wie Greifenstein ein wertloser Wisch Papier.
Nachts brechen die Krisen aus
In Wien sind die Auflagen strenger. Gut geführte UMF Heime von engagierten NGOs wie Caritas oder Diakonie führen Gruppen von 12 bis 15 Jugendlichen. Vom UMF-Experten der Diakonie ist zu erfahren, dass pro Gruppe mindestens zwei Betreuer zur Verfügung stehen. Es werden ausschließlich MitarbeiterInnen mit abgeschlossener akademischer sozialpädagogischer Ausbildung engagiert, denn über 90% der Jugendlichen seien sichtbar oder wenig sichtbar traumatisiert: durch die Flucht, durch Kriegs- und Gewalterfahrungen. Wenn nun die ÖJAB Betreuer bei meinem sonntäglichen Besuch von einem einzigen Traumatisierten im gesamten Heim sprachen, mangelt es vielleicht am professionellen Beurteilungsvermögen. Ein Psychologe ist bei Diakonie-UMF-Heimen immer im Team anwesend. Gerade nachts treten häufig Krisen auf. Die Jugendlichen werden in den Diakonie-Heimen zur Selbstständigkeit erzogen und kochen nach Möglichkeit täglich und üben, in einer für sie neuen Kultur in jeder Hinsicht Verantwortung zu übernehmen.
Engagierte Mitarbeiter, schlechte Rahmenbedingungen
Die Diakonie bemüht sich um Therapien und um intensive Deutschkurse, bei Bedarf mit eigens angestellten Deutschlehrern. Es gibt für jeden Jugendlichen ein ausführliches Anamnese-Gespräch bei der Erstaufnahme und dann laufende Teambesprechungen über den Fortschritt jedes einzelnen. Wenn man diesen Grad an Professionalität mit jener von Greifenstein vergleicht, kann man sich des Eindruck nicht verwehren: In Greifenstein mangelt es trotz gutem Willen und Engagement der MitarbeiterInnen an den geeigneten Rahmenbedingungen, um Jugendliche in seelischer Not sorgfältig zu betreuen. Das diagnostizierte nicht nur die Volksanwaltschaft, sondern auch die Ehrenamtlichen, die sich dort mit Deutschkursen und Freizeitangeboten abmühen. Dabei beträgt der Tagsatz 95 EUR pro Nase, damit sollte eigentlich einiges an pädagogischer Zuwendung möglich sein. Wobei österreichischen Jugendlichen, die in einem staatlichen Heim betreut werden, ab 150 EUR aufwärts zustehen – so gesehen relativiert sich der Betrag. Es bleibt jedenfalls dem Anbieter überlassen, ob dieses Geld in qualifiziertes Personal oder in Securities investiert wird. Das Drasenhofen-Gefängnis nach Modell Waldhäusl soll ja ein Vielfaches an Steuergeld gekostet haben.
Bewachung statt Betreuung erwünscht
Denn im Niederösterreich von Waldhäusl, Landbauer und Konsorten muss die Bevölkerung vor den Jugendlichen geschützt werden – mit Billigung der Landeshauptfrau, die sich zuerst kritisch äußerte, zuletzt jedoch die Kompetenzen von Landesrat Waldhäusl sogar gestärkt hat: sie entzog zuletzt der St. Pöltener Kinder- und Jugendhilfe die Koordination, nun befinden sich die Agenden gänzlich in Walhäusls Hand. Da ist es dann wurscht, wenn instabile Jugendliche mehrfach von einem Heim ins nächste gekarrt werden. So geschehen ist es auch bei den besonders instabilen Jugendlichen von Drasenhofen, verlegt nach St. Gabriel, nun neuerlich verlegt nach unbekannt, unter medialem Getöse. In einem aktuellen Kurier-Artikel wird dazu eine Insiderin zitiert:
Kathrin N. (Name geändert) hat bis vor Kurzem im psychologischen Bereich in NÖ gearbeitet. Sie sagt: „Die Situation war nie rosig. Aber seit FP-Landesrat Gottfried Waldhäusl das Ressort übernommen hat, ist das bisher ohnehin schon geringe Verständnis für seelische Not gänzlich verschwunden. Es ist keinerlei Intervention zur Verbesserung des psychischen Zustands angedacht, es besteht überhaupt kein Interesse daran.“ Früher hätte es etwa klinische Psychologen gegeben, die von Einrichtung zu Einrichtung fuhren. Doch dies wurde gestrichen.
Herumgeschoben wie Ware
Doch dieses Herumgeschiebe ist offenbar eine niederösterreichweite Unsitte, wie auch im Standard aktuell nachzulesen ist Auch die Jugendlichen anderer Heime, auch einige aus Greifenstein, mussten teils mehrmals übersiedeln, herumgeschoben wie billige Umtauschware. Es bleibt zu hoffen, dass sie nun zur Ruhe kommen können und das Zusammenleben mit der Bevölkerung sich harmonisch gestaltet. Es mögen viele Freiwillige all das ausgleichen, was Institutionen an Zuwendung hier verabsäumen. Vielleicht gibt es ja eines Tages wieder gemeinsame Sing- und Kochabende… Denn je alleingelassener die Jugendlichen sind, je abgelehnter sie sich fühlen, je weniger für ihre soziale Integration getan wird, desto geringer werden wohl ihre Bildungsfortschritte und desto eher geraten jene, die stark traumatisiert sind, in psychische Ausnahmesituationen. Auch ihre mitunter geringschätzige Haltung Frauen gegenüber werden sie so, wie es jetzt läuft, wohl beibehalten – denn auch ich mache mir keine Illusionen: das patriarchale Frauenbild ist fest in diesen Köpfen verankert, an diesem muss jedoch dringend gerüttelt werden.
Der an dieser Stelle veröffentlichte abendliche Termin zum Besuch des Heimes Greifenstein ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, wie mir soeben mitgeteilt wurde, er war nur für zuständige Personen aus St. Andrä Wördern gedacht.
Aufruf Petition unterschreiben: Klosterneuburg fordert Absetzung von Landesrat Waldhäusl
Update 10. Februar:
Nach der Veröffentlichung meines Blogs erreichte mich folgendes Mail einer Psychotherapeutin, das ich hier anonymisiert einkopiere:
Liebe Frau Arrieta!
Mir ist sowohl die Situation in Greifenstein wie auch die in Mödling, St Gabriel bekannt.
Die Jugendlichen werden ständig verlegt ohne Rücksicht auf ihr soziales Netzwerk und Bezugspersonen.
Jede willkürliche Verlegung bedeutet für die teils schwertraumatisierten Jugendlichen eine Retraumatisierung. Ritzen und Suicidversuche sowie völlige psychische Dekompensation mit Einweisung in die Kinder und Jugendpsychiatrie finden darin ihre Ursache. FPÖ Politiker wie zB Kickl und Landbauer verfolgen diese Jugendlichen auf Instagram und versuchen Sie auf diese Art zusätzlich in Angst und Schrecken zu versetzen.
Man versucht gezielt Caritas und Diakonie auszubooten. Die Geschäftsführung der öjab scheint mit Waldhäusl wunderbar was Flüchtlingsfragen anbelangt, zu kooperieren.
Es ist eine Schande wie in Niederösterreich mit diesen jungen Menschen umgegangen wird.
Ich stehe Ihnen für Rückfragen gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
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